Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Julia Klöckner (CDU), hat ihre “Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung” vorgestellt. Kurz zusammengefasst: Bis 2030 soll die Lebensmittelverschwendung um die Hälfte reduziert werden.
Der Status-quo: Eine Situation, die dringend geändert werden muss.
Auf den ersten Blick ein sehr positives Vorhaben, werden doch jedes Jahr in Deutschland zwischen 11 Mio. und 18 Mio. Tonnen Lebensmittel ungenutzt vernichtet. 440.000 km lang wäre die Reihe an LKW, wenn man sie mit dieser Menge an Lebensmitteln beladen würde – eine Strecke von Oslo nach Lissabon und zurück. Die Endverbraucher, also ganz normale Einkäufer*innen, sind hier der entscheidende Faktor: Laut einer WWF-Studie finden bei uns Zuhause 40% der Lebensmittelverschwendung statt. Andere Erhebungen gehen sogar von über 60% aus. Das Marktforschungsinstitut GfK beziffert die Menge an weggeworfenen, aber noch guten Lebensmitteln in den deutschen Haushalten auf 300 g am Tag, 109 kg im Jahr, 4,48 Mio. Tonnen im Jahr und 150 € pro Jahr und Haushalt, das sind zusammen 6 Mrd. € pro Jahr, die einfach im Müll landen. Dabei verursachen die Lebensmittelverluste auch noch 4 % der Treibhausgasemissionen in Deutschland: Auf das Jahr 2018 gerechnet, wären das 34,75 Mio. Tonnen CO2-Äq. Wir sind von einem nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln und deren Wertschätzung noch sehr weit entfernt. Und das aus meiner Sicht wichtigste Argument: Noch immer hungern gleichzeitig 821 Mio. Menschen auf diesen Planeten. Wenn man sich diese Verhältnisse vor Augen führt, kann man nur wütend werden. Dabei könnten die Mengen der derzeitigen weltweiten Ernten nach Angaben des Weltagrarberichtes 12 bis 14 Milliarden Menschen ernähren.
Aus diesem Grund ist eine solche Strategie längst überfällig und Frau Klöckner nicht die erste Ministerin, die für die Reduktion der Lebensmittelverschwendung wirbt. Ich schreibe bewusst “wirbt”: Mehr war es bis dato leider nicht. Verpflichtungen? Fehlanzeige. Auch aus diesem Grund scheinen die Lebensmittelverluste seit Jahren konstant zu sein und nicht abzunehmen.
Ist die Strategie ein nachhaltiger Ansatz zur Reduktion von Lebensmittelverschwendung?
Wenn man in die Strategie reinschaut, fällt zuallererst auf, dass sie inklusive Impressum, Einleitung, Inhaltsverzeichnis etc. nur 20 Seiten lang ist. Leider wurden die konkreten Maßnahmen – die Strategie definiert vier Handlungsfelder (politischer Rahmen, Prozessoptimierung in der Wirtschaft, Verhaltensänderung bei allen Akteuren und Potenzial durch Forschung und Digitalisierung) darin nicht nur kurz zusammengefasst, sondern ausführlich beschrieben.
Beim Lesen erscheint es, als sei die Problematik der Lebensmittelverschwendung ein vollkommen neues Phänomen, ein Feld, in dem erste Schritte in der Forschung, Bewertung, Messung etc. erst noch gegangen werden müssen. Im Jahr 2012 publizierte das BMEL (Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung) zusammen mit der Universität Stuttgart die Studie “Ermittlung der Mengen weggeworfener Lebensmittel und Hauptursachen für die Entstehung von Lebensmittelabfällen in Deutschland”. Der WWF publizierte 2015 das “Grosse Wegschmeissen”. Diese Studien zeigen die Probleme längst auf. Foodsharing und andere Initiativen setzt sich schon seit vielen Jahren für die Rettung von Lebensmitteln ein. Bis 2030 soll die “Weitergabe von Lebensmitteln” überprüft werden, “wobei ein länderübergreifender einheitlicher Vollzug und Umgang mit gemeinnützigen Organisationen angestrebt wird.” Derzeit sind die sogenannten Foodsaver in einer rechtlichen Grauzone unterwegs und können sogar wegen Diebstahls verurteilt werden, wie ein aktueller Fall zeigt. Nach dem Urteil haben die beiden Foodsaverinnen deshalb die Petition “Containern ist kein Verbrechen! Wir brauchen eine Gesetzesänderung!” gestartet.
Weiter erfährt man beim Lesen der Strategie, dass Daten erhoben werden sollen, ressortübergreifende Arbeitsgruppen eingerichtet, Status-quo-Ananlysen vorgenommen, Indikatoren für die Wertschöpfungskette entwickelt, Dialogforen gegründet, Maßnahmen erarbeitet, Produktionsprozesse analysiert und Unternehmen zu Maßnahmen aufgefordert werden (nicht verpflichtet).
Die angesprochene Digitalisierung, z. B. intelligente und angepasste Etiketten, die speziell für ein Produkt ein Verbrauchsdatum angeben können, ist eine tolle Sache und sollte dringend weiterentwickelt und zur Marktreife gebracht werden. Doch wann das sein wird, ist ungewiss. Und ob es dann eine verpflichtende Einführung geben wird, steht auf einem ganz anderen Blatt geschrieben – siehe die Tierhaltungskennzeichnung, wo sie sich das Landwirtschaftsministerium nicht zu einer gesetzlichen Einführung durchringen kann und rein auf Freiwilligkeit setzt. Um die Zeit bis zur Einführung der flächendeckend intelligenten Verbrauchsetiketten zu überbrücken, sollte man einen Zwischenschritt gehen, auf das stark kritisierte Mindesthaltbarkeitsdatum verzichten und stattdessen ein Verbrauchs-/Verfallsdatum einführen. Gerne auch zweistufig, wie im Beitrag Nachhaltiger Konsum & Ernährung: MHD, Verfallsdatum und Verbrauchsdatum fördern Lebensmittelverschwendung beschrieben.
Mir ist bewusst, dass Umsetzungen en détail sehr kompliziert sein können, aber wie schon geschrieben, kommt mir die Strategie wie ein unnötiger Neubeginn vor, der bisherige Forschung ignoriert. Es wundert mich sehr, warum man Akteure der Wertschöpfungskette (von Hersteller bis Dienstleister à la McDonalds) nicht einfach dazu verpflichten kann, Daten zu Lebensmittelverschwendung herauszugeben. Sollte nicht jeder Betrieb wissen, wie viel Rohstoffe er bezieht, verarbeitet und entsorgt, spätestens mit dem Lesen des Müllgebührenbescheids?
Fazit: Weit weg von einer nachhaltigen Wende
Die Zeitschrift LebensmittelPraxis führt weitere Argumente zur Kritik an der Strategie ins Feld, die ich hier gerne teile:
Grundsätzlich lässt sich ein Wille konstatieren, aber auch eine fehlende Kraft in der Umsetzung. Wenn alles schlecht läuft, sind bis 2030 weitere 121 Mio. Tonnen Lebensmittel nutzlos produziert und entsorgt worden und dadurch weitere 382,25 Mio Tonnen CO2-Äq. in die Atmosphäre geblasen. Ein Umstand, den es schnellsten zu vermeiden gilt.
Was können wir als Privatverbraucher*innen mit dem Wissen machen, dass wir momentan die Hauptverantwortlichen für die Lebensmittelverschwendung sind? Wir können besser und gezielter Einkaufen, Schnellkäufe verhindern, nicht zu viel kaufen und, nicht vergessen, auf Groß- und Familienpackungen verzichten, auf die eigenen Sinne vertrauen, nicht nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum achten, nur soviel Essen zubereiten, wie auch wirklich gegessen werden kann, Lebensmittel richtig Lagern (z. B. Kartoffeln vor Licht schützen), Vorräte im Blick behalten, Reste kreativ verwerten, Reste einfrieren, überreifes Obst zu Kompott, Kuchen und Marmelade verarbeiten und ganz wichtig: Lebensmittel wertschätzen. Sie geben uns Energie und Kraft, um unseren Alltag zu bewältigen, fit und gesund zu bleiben und sind zudem ein Teil unserer Kultur. Motto sollte sein: Lieber etwas weniger und gezielter kaufen, dafür hochwertige, regionale, saisonale und biologische zertifizierte Lebensmittel beziehen. Achten wir sie, achten wir mehr auf unsere Umwelt und andere Menschen.
Weitere Informationen gegen Lebensmittelverschwendung und -verluste vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft:
Lebensmittel wertschätzen: Gemeinsam aktiv gegen Lebensmittelverschwendung!
Zu Gut Für Die Tonne
Quellen:
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2019): Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2019): Studie: Ermittlung der Mengen weggeworfener Lebensmittel und Hauptursachen für die Entstehung von Lebensmittelabfällen in Deutschland
WWF (2015): Studie: Das grosse Wegschmeissen
GfK (2017): Studie: Systematische Erfassung von Lebensmittelabfällen der privaten Haushalte in Deutschland
Deutschlandfunk (2019): Weniger Essen soll im Müll landen
Zeit Online (2018): 821 Millionen Menschen sind unterernährt
TAZ (2019): Strafsache Lebensmittelrettung
Campact Petitionsplattform (2018): Containern ist kein Verbrechen! Wir brauchen eine Gesetzesänderung!
Foodsharing: Gesamtstatistik gerettete Lebensmittel in Deutschland
Verbraucherzentrale (2018): Lebensmittel: Zwischen Wertschätzung und Verschwendung
Zukunftsstiftung Landwirtschaft (2016): Weltagrarbericht
top agrar online (2019): Bundesregierung will Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren